Interview mit P. Giuseppe Pierantoni,
16.04.2002

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Beppe, vor einer Woche bist Du frei gekommen. Die seither vergangenen wenigen Tagen waren gefüllt mit Reisen, Begegnungen, Interviews. Ein heftiger Kontrast zu den sechs Monaten der Abgeschiedenheit?

Diese eine Woche nach meiner Befreiung war tatsächlich voll gepackt. Ich hatte Begegnungen mit sehr, sehr vielen Persönlichkeiten. Unversehens bin ich vom Leben der Armen, vom Leben der fast von der Weltgeschichte Ausgeschlossenen oder zumindest an den Rand Gedrängten, mitten ins pulsierende Zentrum der Zeitgeschichte geworfen worden. Ich habe die so genannten großen Persönlichkeiten getroffen, die Präsidentin der Philippinen, die wichtigsten Politiker, die Chefs von Armee und Polizei, dann auch die Großen der Kirche, den Erzbischof von Davao, den Bischof von Pagadian, den Apostolischen Nuntius, all meine Mitbrüder, viele Priester und Ordensleute. Und jetzt hier in Rom werde ich erneut dieselbe Erfahrung machen: Politiker, Kirchenvertreter... Ein neuer intensiver Abschnitt, völlig verschieden von dem Vorhergehenden. Aber auch das ist Teil jener großen Erfahrung, ein Teil, den ich akzeptieren muss, so wie ich mich von Anfang an auch der Erfahrung der Entführung überlassen habe. Ich werde auch diese Erfahrung akzeptieren, von der ich hoffe, dass sie nicht zu lange dauern wird. Und dann muss ich etwas mehr Ausgeglichenheit finden.

Wie sind während dieser ersten Tagen nach der Befreiung die letzten sechs Monate in Deinem Denken präsent?

Momentan bin ich noch in der Phase der Reaktion auf das Geschehene. Ich denke nicht zu oft daran. Wenn diese sechs Monate mir jedoch ins Gedächtnis kommen, dann melden sie sich als eine immer positivere Erfahrung. Den dramatischen Aspekt der Ereignisse habe ich hinter mir gelassen, er ist bereits vergessen. Was bleibt, sind Gesichter von Personen, ihre grundsätzliche Offenheit, ihre Freundlichkeit mir gegenüber. Und wenn ich so an sie denke, bete ich für sie, und dieses Beten ist gekennzeichnet von Dankbarkeit für das Geschehene.

Dankbarkeit wofür?

Dankbarkeit für diese Erfahrung, die mir geschenkt wurde. Ich habe sie nicht gesucht, ich hätte nie den Mut gehabt, derartiges zu suchen. Sie ist mir auferlegt, geschenkt worden. Und mittlerweile weiß ich, dass sie mir von einer höheren Weisheit geschenkt wurde, die vor allem die Weisheit Gottes ist, der die gesamte Erfahrung gelenkt hat mit Hilfe jener Menschen, denen ich begegnet bin. Ich habe in diesen sechs Monaten vor allem die Erfahrung von Mangel am Notwendigsten, von Armut gemacht. Und das ist die Erfahrung der Mehrheit der Bevölkerung in dieser Gegend der Philippinen. Mehr noch: es ist die Erfahrung der Bevölkerungsmehrheit der gesamten Philippinen und auf der ganzen Welt, die leben müssen, ohne zu wissen, was morgen geschieht und ob der Tag einen Abend für sie bereit hält.

Und diese Erfahrung von Armut und Mangel hast Du in dieser Radikalität vorher in den Jahren Deines Aufenthalts auf den Philippinen nicht machen können?

Nein. Es ist eine Sache, die Armut im Leben der Anderen zu sehen. Etwas völlig Anderes ist es, sie am eigenen Leib zu erfahren. Wenn Du die Armut, den Mangel bei Anderen siehst, leidest Du zwar, fühlst Dich manchmal ohnmächtig, aber Du hast immer noch Dein Leben, Dein eigenes Leben in Deinen eigenen Händen. In diesen sechs Monaten habe ich jedoch die Unmöglichkeit erfahren, das eigene Leben gestalten zu können, die Unfähigkeit, mir meine Zukunft zu sichern, nicht einmal den nächsten Tag. Das war geistlich sicherlich die wichtigste Erfahrung, die ich gemacht habe. Endlich habe ich verstanden, was Hingabe, Schlüsselwort unserer dehonianischen Spiritualität, eigentlich heißt. Endlich habe ich verstanden, was Armut bedeutet, von der Gott sagt, sie sei selig gepriesen. Ich bin in eine neue Dimension getreten, die - so glaube ich - den Tod des alten Menschen und hoffentlich die Geburt des neuen, geistlichen Menschen besiegelt. Es hat viel mit dem zu tun, worüber ich früher schon öfter nachgedacht habe: „sterben außerhalb der Mauern Jerusalems“, weil es vielleicht innerhalb einer geschützten Erfahrung für mich niemals möglich gewesen wäre zu verstehen, was ich nun verstanden habe.

Ich habe Dich vor einigen Jahren in Rom erlebt, danach einige Wochen in Albanien. Ich habe Dich mit zahlreichen Zweifeln erlebt, voller Anfragen an Deine persönliche Sendung, an die Sendung der Kirche, an Dein eigenes Leben auf den Philippinen. Nach einem Entscheidungsprozess bist Du zurückgekehrt, dann kam die Entführung. Irgendwann während der Zeit Deiner Entführung habe ich gedacht - vielleicht übereilt, vielleicht absolut falsch: Wenn alles gut ausgeht, wird Beppe sagen, dass genau etwas Derartiges nötig war für ihn in dieser Phase seines Ordenslebens.

Das ist wohl wahr. Von Beginn der Entführung an habe ich gespürt, dass es sich nicht lediglich um eine menschliche oder politische Erfahrung handelte, sondern vor allem um eine von Gott gewollte und gelenkte geistliche Erfahrung. Ich weiß nicht, ob das hierhin gehört, aber ich hatte gegen den Rat meines geistlichen Begleiters ein Zeichen von Gott erbeten. Ich war an einen Punkt großer innerer Unzufriedenheit mit meiner Arbeit, mit meinem damaligen Leben gekommen. Deshalb habe ich Gott gesagt: „Gib mir bitte ein Zeichen Deines Willens, bevor zehn Jahre meiner Anwesenheit auf den Philippinen vorbeigehen. Der 11. Dezember 2001 wird der 10. Jahrestag meiner Ankunft auf den Philippinen sein. Gib mir ein Zeichen, denn ohne dieses Zeichen würde ich nach den verabredeten drei Jahren wieder nach Italien zurückkehren.“ Und Gott hat mir ein Zeichen gegeben, ein sehr, sehr deutliches Zeichen. Und das hat mir Einiges zu klären geholfen. Während meiner Entführung - um anzudeuten was in mir vorging - habe ich in mir eine große Ruhe gespürt. Im ersten Augenblick hätte ich am liebsten instinktiv reagiert, dann habe ich den Mut zur Hingabe gefunden.

In welchem Moment? Sofort am Anfang?

Als die fünf Entführer in den Konvent gekommen sind um mich zu fesseln, in diesem Augenblick habe ich nur Wut verspürt. Ich wollte reagieren, aber ich habe mich an das erinnert, was einem irischen Missionar zwei Monate vorher widerfahren war. Er war getötet worden bei dem Versuch ihn zu entführen. Getötet, weil er reagiert hatte. Dies kam mir in den Sinn und ich dachte mir: Lass die Leute mal machen. Nach dem Verlassen des Konventes, als wir durch die Dunkelheit rannten, verlor ich meine Sandalen, wurde von diesen Leuten mitgeschleppt und spürte lediglich das Bedürfnis darum zu beten, dass niemand getötet würde, dass es kein Blutvergießen geben möge. Schließlich sind wir an einem Boot angekommen, wir haben uns vom Ufer entfernt, und dann fand ich eine große Ruhe in mir. Endlich konnte ich mit einem der Entführer sprechen, der sich sehr freundlich mir gegenüber verhielt. In diesen Augenblicken hörte ich in mir eine Stimme, die mir sagte: „Ich sende Euch wie Schafe mitten unter die Wölfe.“ Es ging also darum, den Sinn einer Sendung zu entdecken, es war nicht so sehr eine Erfahrung, die ich machen musste, sondern eine Sendung, die mir anvertraut war. Dann habe ich noch eine andere Stimme gehört mit dem Satz Jesu: „Wenn einer dich zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm.“ Verfügbarkeit und Bedingungslosigkeit, über das Vorhersehbare hinausgehen - all das war angesagt. Und der dritte Satz, den ich in mir in dieser kurzen Zeitspanne der ersten zehn Stunden der Entführung und der Fahrt auf dem Boot hörte, ist wohl der Wichtigste. Jener Satz, den Jesus zu Marta spricht, als er das Grab ihres Bruders Lazarus öffnet und ihn herausruft: „Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?“ Dieser Satz machte mir klar, dass das Vorhaben Gottes in dieser Situation darin bestand, seine Herrlichkeit offenbar werden zu lassen. Und alles, was ich tun musste bestand darin, mich diesem Glauben hinzugeben, meine Ohnmächtigkeit anzunehmen in der Gewissheit, dass Er seine Macht zeigen würde. Das hat mich während der ganzen Zeit geleitet und mir geholfen, meine Gefühle von Wut, Schmerz und Sorge vor allem für meine Familie zu überwinden - im Glauben, dass er alle anderen draußen führen und ihnen beistehen würde, vor allem meiner Familie.

Mit Blick auf Deine ersten Kommentare nach der Befreiung wird es gewiss zahlreiche Menschen geben, die berührt waren, aber sicherlich auch andere, die irritiert waren angesichts Deiner Bezeichnung der Entführung als Zeit der Gnade. Kannst Du uns helfen das näher zu verstehen? Wie kann man jemanden, der nicht um sein Leben fürchtet, weil er es nicht liebt und achtet, von jenem unterscheiden, der nicht um sein Leben fürchtet, weil er voller Liebe für das von Gott geschenkte Leben eben jenes vollkommen den Händen Gottes anvertraut?

Die Frage kann vielleicht helfen bei der Klärung dessen, was in mir während der ersten Stunden der Entführung abgelaufen ist. In mir war jene Stimme, die forderte: „Du hast die Pflicht Dein Leben zu schützen, Du hast die Pflicht Deinen Wächtern Schwierigkeiten zu bereiten, Du hast die Pflicht, das Böse zu bekämpfen.“ Es war nicht die Stimme des Geistes, es war die Stimme des Egoismus. Wie hab ich diese Versuchung überwunden? Aufgrund meiner Erfahrung als Kriegsdienstverweigerer war ich mit der Ansicht vertraut, die so genannte legitime Verteidigung als einen Verrat am Geist des Evangeliums zu betrachten. Tatsächlich hat die Theorie der legitimen Verteidigung im Laufe der Kirchengeschichte viele tiefer gehende Haltungen Gottes vergessen lassen. Du hast das Recht Dich zu verteidigen, und somit verteidigt man sich auch gegenüber den Erfahrungen, die Gott einem bereiten möchte. Du bist nicht mehr das Lamm, dass mitten unter Wölfe geschickt wird, sondern Du bist lediglich ein weiterer Wolf, der um sein Überleben kämpft. Deshalb habe ich gedacht, dass ich hier auf dieses Recht der Selbstverteidigung verzichten muss: Ja, mir geschieht Unrecht, ich müsste mich verteidigen, aber ich akzeptiere - mehr oder weniger freiwillig - mich auszuliefern und mich nicht zu verteidigen. Ich glaube, das war der Schlüssel zu einer tiefen Erfahrung. Ich glaube, dass ich genau dadurch meine Gelassenheit, meine psychisch-physische Gesundheit aufrecht erhalten konnte. Vielleicht wäre ich jetzt viel negativer, wütender, verbitterter nach sechs Monaten des erlittenen Unrechts. Stattdessen bin ich zufrieden, glücklich überlebt zu haben, mit einer positiven Erinnerung an all das Erlebte, vor allem deshalb, weil ich besagtes Recht auf Verteidigung hinter mir gelassen habe. Ich glaube, dass dies im Grunde die Sendung der Kirche ist, die in ihrem Leben das Opfer des Lammes, Christi, immer wieder erneuern soll: Er, der Unschuldige und zum Sterben bereite. Darin liegt Erlösung für alle, Erlösung für uns selbst, Erlösung für die gesamte Menschheitsgeschichte von der Logik des Rechtes und Gesetzes. Und genau diese Logik ist im Grunde auch die der Entführer. Vielleicht auch die des fundamentalistischen Islam: die Gesetzesmentalität. Wenn jemand diese Logik überwindet, dann stellen sich Gnade und Unbedingtheit ein - sogar gegenüber Deinem Unterdrücker.

Noch ein Satz Jesu kam mir in den Sinn: „Wenn Ihr für die betet, die Euch Gutes tun, was macht ihr dann besonderes? Betet für Eure Verfolger, dann seid ihr wie Euer Vater im Himmel.“ Das ist der Auftrag der Kirche: wie der Vater sein, frei sein, bedingungslos, nur dem Guten verpflichtet, dem Guten des Nächsten. Alles andere wird Euch dazugegeben. Das war meine Logik. Dann hab ich mich gefragt: Verfall ich am Ende vielleicht jenen psychologischen Mechanismen, in denen sich das Opfer mit dem Denken seines Unterdrückers identifiziert (Stockholm - Syndrom), wie Bettelheim in seinem Buch über Überlebende der Konzentrationslager schreibt: Dass am Ende die Opfer die Logik der Unterdrücker legitimieren? Aber ich hab mir gesagt: Nein. Ich glaube, dass es in meinem Fall nicht so ist. Das war mir um so klarer, als es während dieser Zeit auch ein ganz anderes Verhalten meinerseits gab. Mehrere Male während dieses mehrmonatigen Exils habe ich ein Verhalten an den Tag gelegt, das eben nicht von dieser Hingabe geprägt war, wenn ich zum Beispiel aus Müdigkeit und Wut mich der Zusammenarbeit verweigert und mich habe gehen lassen. In diesen Augenblicken habe ich verstanden, dass ich damit weder mir noch diesen Menschen etwas Gutes tat. Ich war sehr wütend, weil ich Hunger hatte, ich war müde, sie hatten mir versprochen mir etwas zu essen zu bringen, und nach einer Woche kamen sie mit drei kleinen Sardinenbüchsen, die dann für Wochen reichen sollten. Ich bin geplatzt: Hört auf damit, Ihr wollt mich am Ende doch nur umbringen. Und diese Sätze haben auf unterschiedliche Weise in ihnen gewirkt. Einer fühlte sich beleidigt, wollte mich verprügeln, die anderen haben mich verteidigt, aber auch sie waren verletzt. Als ob ich sie verraten hätte. Da habe ich verstanden, dass man nie das Gute, das im Anderen ist, verraten darf, auch wenn dieses Gute sehr begrenzt erscheint. Wenn jemand etwas Gutes tut, dann müssen wir diesem Guten treu bleiben - selbst wenn es nicht ausreicht um sein Verhalten zu legitimieren. Aber es ist wichtig für ihn, dass wir dem Guten in ihm Vertrauen schenken. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass mein momentanes Verhalten gewiss nicht vom Heiligen Geist inspiriert war, und so konnte ich mich erneut auf ein grundsätzliches Vertrauen zubewegen.

In solchen und ähnlichen Situationen laufen Opfer oft Gefahr, ihr Drama lediglich passiv zu erleben, nicht als aktiv Handelnde. In einem Brief schreiben Deine Eltern, sie wären überzeugt, dass „diese lange Zeit der Haft dazu dienen würde, dass P. Beppe auch seinen Entführern Gutes tun könne.“ Ist Dir das in der Tat gelungen? Hast Du tatsächlich die von dir erwähnte Hingabe auf aktive statt passive Weise gelebt?

Genau. In mir hab ich die Logik des Gesetzes und des Rechtes überwunden, um in der Beziehung zu meinen Entführern aktiv nützlich zu sein. Ich habe gesehen, dass sich nach und nach ein Vertrauensverhältnis entwickelt hat. Deshalb haben sie mit mir sogar persönliche Probleme besprochen. Fast fühlte ich mir als ihr Kaplan, ich war immer noch - zwar in merkwürdiger Weise - Priester, nicht für Christen, sondern für andere. Sie haben vor allem zu mir über familiäre Probleme gesprochen. Fast alle sind verheiratet oder im Begriff zu heiraten, viele haben Kinder. Aber aufgrund ihrer Situation können sie selten zu ihren Familien zurückkehren um sie zu sehen. Es ging sogar so weit, dass ich sechs Liebesbriefe schreiben musste. Und dann kamen noch die politischen und religiösen Themen hinzu. Sie haben mir ihre Religion mit großer Begeisterung beschrieben. Und mir wurde klar, dass es Gemeinsamkeiten im Glauben gibt, im Glauben Abrahams, im Glauben an etwas, dass man noch nicht kennt, weil es zu der von Gott verheißenen Zukunft gehört, an die man jedoch glauben kann und für die man sich mit seiner ganzen Gegenwart großherzig aufopfern kann. Und diese Menschen glauben tatsächlich an eine bessere Zukunft, sie glauben daran und sind bereit, große Opfer darzubringen, um auf das zuzugehen, dass für sie von Gott bereitgehalten wird. Diese bessere Zukunft nennen wir doch „Reich Gottes“ - oder nicht? Das Offenbarwerden der göttlichen Gerechtigkeit, Frieden und Einheit, ewiges Leben in Allahs Schoß.

Hast Du ihnen zugetraut Dich zu töten?

Nein, daran habe ich nie geglaubt.

Tatsächlich haben wir weniger Angst gehabt, dass Du von den Entführern getötet würdest als im Zuge der beständigen Bedrängung durch die Armee, durch verschiedene Polizeieinheiten, durch die Schwierigkeiten im Laufe der Verhandlungen - all das ließ uns fürchten, dass Du oder andere Personen umkommen könnten.

Das war das eigentliche Risiko. Aber es hat sich, ich würde fast sagen wundersamerweise, dann doch nicht so ergeben. Natürlich machte die Armee Druck, vor allem in der zweiten Hälfte der Gefangenschaft. Die Soldaten sind sehr nahe an unser Lager herangekommen, drei Mal. Vor allem am 29 Januar, dem Geburtstag meiner Mutter. Da waren sie auf dreißig Meter an uns heran gekommen. Man hörte nichts. Aber wir wussten vom Vortag, dass sie in der Gegend waren. Sehr früh morgens waren wir zum Abmarsch bereit, die Rucksäcke geschultert, die Waffen verteilt, alle inmitten der Lichtung versammelt, wo wir unser Lager aufgeschlagen hatten. Es bestand die Gefahr, dass die Soldaten hoch über uns, auf dem Bergkamm vorbeizogen und uns dort von oben hätten sehen können. Tatsächlich aber sind sie im Flussbett unter uns vorbei gegangen. Und so haben sie nichts sehen können, waren aber sehr nahe an uns heran gekommen. Auf der anderen Seite des Flussbettes war das andere Rebellencamp, dass uns Deckung geben sollte. Die Soldaten sind also mitten zwischen uns gewesen, haben aber offensichtlich nichts gesehen oder wollten nichts sehen. Und so kam es zu keinem militärischen Zusammenstoß.

Du sprichst von Rebellen, in den Zeitungen las man oft von Guerilleros, der Bischof von Pagadian bezeichnete sie anfangs als gemeine Kriminelle. Was waren Deiner Meinung nach ihre wirklichen Ziele?

Ihr erklärtes Ziel war das Geld, das Lösegeld. Damit wollten sie Waffen für ihre eigene Verteidigung und zur Verwirklichung ihres politischen Zieles kaufen: die Befreiung von Mindanao und die Unabhängigkeit von der Regierung in Manila.

Bist Du immer bei derselben Gruppe geblieben?

Ja, immer dieselbe.

Und von dieser Gruppe ist nach Deinem Wissen nie jemand in den zahlreichen Zusammenstößen mit der Armee verwundet oder getötet worden? In den Medien las man fast jeden Tag von Mitgliedern der so genannten Pentagon-Gruppe, die festgenommen, verletzt oder erschossen wurden.

Ich habe niemals etwas davon mit bekommen, dass jemand aus der Gruppe getötet wurde. Auf der anderen Seite muss ich sagen, dass Viele dieser Gruppe sich zwischenzeitlich von uns entfernt haben. Lediglich sechs von der Anfangsgruppe sind wirklich auch am Ende der sechs Monate Gefangenschaft noch dabei gewesen. Einige sind weggegangen und wieder zurückgekehrt, andere kamen nie mehr zurück. Nur sechs waren von Anfang bis Ende dabei. Von den Anderen weiß ich also nichts. Einige haben mir gesagt, sie würden zum Kämpfen weggehen, aber das scheint mir heute eher Teil der Komödie zu sein, die sie mir vorspielten. So wie sie mir auch erfolgreich vorspielten, wir würden uns auf der Insel Basilan in den Händen von Abu Sayaff befinden, der gegen die philippinischen und amerikanischen Soldaten der Gegend kämpft. Und deshalb sagten sie mir: „Wir gehen weg, um gegen die Soldaten zu kämpfen.“ In der gesamten Zeit habe ich nicht eine Explosion, ein einziges Gefecht gehört. Ab und zu ein vereinzelter Schuss, das war alles.

Hier in Rom haben wir wie viele Andere anderswo auf unsere Weise Deine Entführung erlebt, ganz anders natürlich als Du selbst. Es gab eine erste Phase bis Dezember: eine äußerst intensive Phase, insofern als der Wechsel von Hoffnung und Enttäuschung ziemlich heftig und häufig war. Nach der ersten Dezemberhälfte begann eine in gewisser Hinsicht ruhigere Phase, aber auch eine noch unsicherere. Und du? Zum Beispiel in jenem Augenblick zu Beginn des Dezembers, als es so aussah, als wäre alles bereit für Deine Freilassung. Und dann geschah doch nichts. Und das wiederholte sich einige Male. Und dann hörte man für lange Zeit gar nichts mehr. Waren diese ersten Dezembertage auch für Dich vielleicht nicht gerade entscheidende Tage, aber doch Tage, in denen klar wurde, dass man sich nach einer tiefgehenden Enttäuschung auf eine lange Gefangenschaft einstellen musste?

Ich habe genau dasselbe erlebt. Zunächst eine große Hoffnung, dann eine ganz intensive Enttäuschung, dann im Dezember noch einmal eine große Hoffnung, als ich eine Kassette aufnehmen musste und sie mir versprachen: „Siehst Du, in wenigen Wochen kommst Du raus.“ Einige Tage später habe ich die Stimme meiner Schwester im Radio gehört. Jene Botschaft, in der sie die Entführung um einen Akt der Barmherzigkeit am Ende des Ramadan anflehte, damit sie mich freiließen und ich Weihnachten zusammen mit meiner Familie feiern könnte. Ich hab das durch puren Zufall gehört, und es hat mir eine unbeschreibliche Freude bereitet, ich habe wirklich darauf gehofft, dass ich vor Weihnachten frei käme und das Fest zusammen mit meinen Mitbrüdern und meiner Familie feiern könnte. Und dann wieder Enttäuschung und auch Traurigkeit. Dies war um so stärker, als es mir in dieser Zeit körperlich nicht gut ging. Danach hat sich die Situation sozusagen normalisiert. Ich habe verstanden, dass ich lange Zeit warten musste. Als sie dann im Januar die Fotografien von mir machten, habe ich auch nicht sonderlich viel Hoffnung darauf verwandt. Die Zeit nach Dezember war dann also ziemlich ausgeglichen. Ich hab mich nicht mehr allzu großen Illusionen hingegeben.

Und Weihnachten - wie hast Du es erlebt?

Na ja, Weihnachten war kein besonders schöner Tag. Die Nacht war eine der Kältesten während der gesamten Gefangenschaft. Wir schliefen in Hängematten, ich hatte lediglich die Kleidungsstücke, die ich bei der Entführung anhatte, ein leichtes T-Shirt. Übrigens waren auf diesem T-Shirt zwei Worte geschrieben: Dehonianer und Philippinen. Für mich war es ein Werk der Vorsehung, dass ich unter allen möglichen Kleidungsstücken ausgerechnet dieses im Augenblick der Entführung anhatte. Dann hatte ich noch eine Art Armeeanzug, d.h. Hose und Pullover. In dieser Nacht war es schrecklich kalt. Um sechs Uhr morgens, also zwei Stunden nach Sonnenaufgang, konnte ich noch immer meinen Atem sehen. Klar, dass in dieser Nacht alle, nicht nur ich, kaum geschlafen haben. Außerdem gab es nichts zu essen. Zum Mittagessen hatten sie mir einen Teller Reis mit Salz als Beilage gegeben, am Abend dasselbe: Reis und sonst nichts. Anfangs hatte ich mich heftig bemüht, dem Weihnachtsfest gebührend Bedeutung beizumessen, weil es doch weit über meine eigene Situation hinaus wichtig ist: Jesu war geboren - für alle. Ich wollte unbedingt glücklich sein, habe mir innerlich gesagt: „Ich muss glücklich sein, ich muss glücklich sein.“ Für ein paar Stunden ging das gut... dann jedoch habe ich die Last gespürt alleine zu sein. Und Traurigkeit kam auf.

Wenn man überhaupt von ‚normalen’ Tagen sprechen kann, wie sah dann der Tagesablauf aus?

Ein ganz normaler Tag bestand - fast - aus Nichtstun. Morgens standen die Anderen sehr früh zum Gebet auf, ich stand mit ihnen ebenfalls zum Gebet auf. Normalerweise habe ich nie die ganze Nacht durchschlafen können. Um ein oder zwei Uhr nachts wurde ich stets wach. Die Zeit der Ruhe, des Nichtstuns war einfach zu lang. Meistens betete ich dann während der Nacht, und so gegen Tagesanbruch schlief ich wieder ein. Dann stand ich wieder zusammen mit den Anderen auf. Die ersten Stunden des Tages taten wir meistens wirklich so gut wie nichts, es waren nach ihrer Erfahrung die gefährlichsten Stunden. Die Soldaten begann nämlich meistens gegen drei oder vier Uhr die Gegend zu durchkämmen bis zur Mitte des Vormittags. In diesem Zeitabschnitt mussten wir also still sein, bereit zur Flucht, man flüsterte lediglich untereinander. Danach gaben sie mir die Möglichkeit zum Waschen. Sie brachten mir eine Schüssel mit drei oder vier Litern Wasser. Das war jeweils ein wunderschöner Augenblick für mich: Beim Waschen entspannte ich mich, fühlte mich wieder sauber. Aber nicht immer war Waschen möglich, meistens ein über den anderen Tag. Danach gab es irgendwann etwas zu essen, und auch das war ein schöner Moment, obwohl es wenig zu essen gab. Alle aßen zusammen, und alle aßen das Gleiche. Und wenn etwas übrig blieb, habe in der Regel ich es bekommen. Der Nachmittag war dann wieder relativ frei, entspannt. Es gab Gespräche, man war ausgeglichen. Ein weiterer schöner Augenblick war der Abendanbruch, wenn gegen fünf Uhr etwas Frische aufkam. Am interessantesten war es natürlich, wenn jemand von außen kam um Nahrung oder Nachrichten zu bringen.

Du warst sechs Monate lang immer mit denselben Personen zusammen, hast niemals den Kreis dieser kleinen Gruppe verlassen. Hast Du irgendeinen Kontakt über die Gruppe hinaus gehabt, Radio gehört, Zeitungen gelesen?

Zeitungen nie. Lediglich an dem Tag, an dem sie Fotos von mir machten, gaben sie mir die Zeitung, die man auf dem Bild sieht. Und die habe ich dann von vorne bis hinten gelesen, sogar die Werbung. Aber sie kauften keine Zeitung, weil sie kein Englisch verstanden. Außerdem waren sie einfache Leute, Analphabeten oder Semi-Analphabeten. Deshalb waren sie nicht an Zeitungen interessiert. Für eine gewisse Zeit hatten sie ein Radio, mit dem man allerdings nur zwei Sender empfangen konnte, die auch nicht besonders interessant waren. Außerdem übertrugen sie in Sprachen, die ich nicht kenne: Tagaloe, sozusagen die Landessprache und Cebacano, eine lokale Sprache. Es gab zwar einige Soap-Operas in Sebuano, der Sprache, die ich kenne, aber nachdem ich mich anfangs bemüht hatte, sie zu hören, habe ich es doch bald wieder aufgegeben.

Und untereinander haben sie immer in ihrer Sprache gesprochen? Um Dich nicht wissen zu lassen, worum es ging?

Genau, das haben sie systematisch praktiziert. Sie haben mich nicht einmal herausfinden lassen, welche ihre eigentliche Sprache war. Sie wollten mir vormachen, dass es Yakan wäre. Aber dann sagten sie wiederum, dass sie auch andere Sprachen benutzten.

Wahrscheinlich war es für Dich auch besser nicht zu wissen, wer sie waren, woher sie kamen und nicht die Einzelheiten ihrer Pläne zu kennen. Du hast gesagt, Du hättest nachts gebetet, wenn Du nicht schlafen konntest. Wie betet es sich unter solchen Umständen?

Ich habe vor allem regelmäßig den Rosenkranz gebetet. Ich habe mir immer ein Geheimnis des Rosenkranz ausgesucht, dann einige Augenblicke hingehört, was dieses Geheimnis mir zu sagen hatte. Und jedes Geheimnis betete ich in einer besonderen Gebetsmeinung. Einige dieser Intentionen habe ich regelmäßig jeden Tag wiederholt. Vom ersten bis zum letzten Tag habe ich für meine Familie gebetet, für mir nahe stehende Frauen und Männer, von denen ich wusste, dass sie unter meiner Erführung litten. Ich habe Gott stets darum gebeten, dass er sie behüte und in der Hoffnung erhalte. Dann habe ich regelmäßig für unsere dehonianische Mission auf den Philippinen gebetet, für die gesamte Kongregation, insbesondere um Berufungen, für die Ortskirche von Pagadian und besonders für Bischof Jimenez, der sich in dieser Situation als der wirkliche Protagonist und als die ausgeglichendste Person erwiesen hat.

Auch für die Entführer habe ich stets gebetet, damit weder ihnen noch mir etwas zustoßen möge. Und damit in ihnen die Vision eines anderen Lebens reifen möge. Sie waren sehr negativ bezüglich der Situation auf den Philippinen eingestellt, vor allem was die politischen und sozialen Verhältnisse betrifft. Dem kann ich zum Teil zustimmen, aber nicht vollständig. Sicherlich tragen sie mit ihrem Verhalten nicht zu einer Verbesserung der Situation bei. Ich habe den Herrn gebeten, dass er sie erleuchte, damit sie verstehen, dass nur die Wege des Friedens nützlich sind. Und dann habe ich oft die Worte Jesu im Garten Gethsemane gebetet: „Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen.“ In der Gewissheit, dass jene Zeit des Wartens ein Erwarten der Verwirklichung von Gottes Plänen war. Was von mir verlangt war: Vertrauen, Hoffnung, Hingabe - damit Gott sein Werk vollbringe.

Und die Messe?

Sechs Monate lang habe ich keine Messe gefeiert. Sechs Monate lang habe ich keine Bibel und kein Brevier zur Verfügung gehabt. Ich muss allerdings bekennen, dass ich in den vergangenen Jahren Gott gesagt hatte, dass ich ‚messmüde’, ‚sakramentenmüde’ war, und offensichtlich hat Gott das sehr ernst genommen. Er hat den Schrei verstanden, der aus meinem Inneren aufstieg und hat mir sechs Monate frei gegeben, sechs Monate sakramentale Pause, ein langer Karsamstag, ohne Liturgie. Es war eine schöne Erfahrung, denn wie ich schon gesagt habe, sind in diesem liturgischen Schweigen die Worte Jesu zum Vorschein gekommen, Worte, die meiner Meinung nach wirklich vom Heiligen Geist inspiriert wurden. Somit war es nicht mehr die Bibel oder die Liturgie, die mir meine Spiritualität nahe legten, sondern der Geist Gottes selbst. Ich war ohne Liturgie, aber nicht ohne Gott, nicht ohne Gottes Gegenwart.

Du hast überlebt, für Dich ist die Entführung gut ausgegangen, vielleicht wäre sie für Dich auch im Falle Deines Todes gut ausgegangen. Was aber ist von Gott zu halten angesichts all der Geschichten, die schlecht ausgehen? Du kannst Gott jetzt danken für Deine Befreiung, aber es gibt so viele Andere...

Vielleicht ist das, was ich jetzt sage, nicht direkt eine Antwort auf Deine Frage... Mit diesen Leuten, meinen Entführern, habe ich oft über die menschliche Freiheit diskutiert. Sie sagten: „Alles, was geschieht, ist von Gott gewollt.“ Aber gleichzeitig sagten sie: „Man darf nicht gegen die Gebote Gottes verstoßen.“ Ich konnte nicht verstehen, wie gemäß ihrer Mentalität zugleich alles gemäß Gottes Willen geschah und Menschen sich trotzdem gegen Gottes Gebot vergehen konnten. Wo ist die Freiheit des Menschen? Vorher sah ich die Frage etwas anders, jetzt aber beginne ich es so zu verstehen, dass der Mensch seine eigene Freiheit hingeben kann; der Mensch ist wirklich frei, so sehr frei, dass er tatsächlich vollständig gegen Gottes Willen und Erwartung tätig werden kann. Aber der Mensch kann auch in Freiheit sich selbst immer mehr Gott hingeben. Ob ich heute lebe oder nicht - ich glaube, im Grunde ist das nicht übermäßig wichtig. Ich habe die Gewissheit, dass ich alles, was mir widerfährt, in Gemeinschaft mit dem Herrn zu leben habe. Vielleicht hätte ich in Gemeinschaft mit dem Herrn auch meinen Tod gelebt. Und wenn ich heute lebe, weiß ich doch, dass ich eines Tage sterben werde. Deshalb muss ich versuchen, die mir verbleibende Zeit in tiefer Gemeinschaft mit Gott zu leben. Ich fühle mich wie ein Mensch, dem eine zweite Chance gegeben worden ist. Und ich wiederhole noch einmal, dass der größte Ausdruck menschlicher Freiheit darin besteht, sich selbst, sein eigenes Leben Gott hinzugeben.

Es ist nahe liegend, dass eine derartige Erfahrung in all ihren Dimensionen erst mit dem Vergehen von Tagen, Wochen, Monaten verarbeitet wird. Erst jetzt, Tag um Tag, lernst Du die andere Seite kennen: Die zahlreichen Bemühungen um Deine Befreiung, zahlreiche unbekannte Personen, die Minuten und Stunden im Gebet für Dich verbracht haben, und ebenso Personen, die um Dich geweint haben: aus enttäuschter Hoffnung, aus Verzweiflung, aus Freude schließlich. Wie wirst Du all das, diesen großen Strom der Liebe in Deine Erfahrung integrieren können?

Ich habe in der Tat oft daran gedacht. Es ist Teil jener Erfahrung Gottes, der uns unendlich liebt, der sich uns bedingungslos schenkt, ohne auf unsere Verdienste zu schauen. Mit diesem Gott haben sich zahlreiche Menschen vereint, die bedingungslos, aus reiner Liebe, für mich gebetet und gelitten haben, die Opfer für mich gebracht haben. Ich spüre sehr stark jene Wahrheit, die im Grunde die Wahrheit aller Menschen ist: Wir sind auf andere angewiesen, auf die Liebe anderer und auf die Liebe Gottes. Aufgrund meiner Erfahrung habe ich keinen einzigen Zweifel daran, dass mein Leben von dem mich liebenden Gott und von anderen abhängt. Vielleicht habe ich dadurch ein Privileg, vielleicht eine Sendung, anderen zu helfen zu verstehen, dass wir aufeinander angewiesen sind und auf Gott. Unser Leben ist ein Geschenk, das in der Liebe für einander jeden Tag erneuert wird. Ja, ich bin ein Schuldner, ich schulde mein Leben allen.

Kann man in diesen zahlreichen und ganz unterschiedlichen Initiativen von Menschen für Dich nicht auch jene Wahrheit des Evangeliums entdecken, dass es keine größere Liebe gibt, als sein Leben für seine Brüder und Schwestern, in diesem Fall für Dich, hinzugeben?

Innerhalb dieser ganzen Geschichte gehört vielleicht genau diese Erfahrung von vielen Menschen zu dem, was Gott wollte: die Erfahrung von Gebet, die Erfahrung der Aufopferung für einen Bruder, der leidet. Ich kann sagen, dass all diese Menschen mich gerettet haben, aber vielleicht haben sie auch sich selbst gerettet. Sie haben die Erfahrung gemacht, wie sehr man sich vergessen kann um eines Bruders, einer Schwester willen.

Du hast gesagt, dass Du auf die Philippinen zurückkehren möchtest. Es gibt wenig Ordensleute oder Priester, die nach einer derartigen Erfahrung zurückkehren konnten. Sie haben zu viel gesehen, kennen zu viele Personen, die in Verhandlungen verwickelt waren, kennen zu viele Orte, die verborgen bleiben sollten etc. Denkst Du schon über Deine Zukunft nach?

Momentan bin ich noch sehr enthusiastisch. Ich möchte zurückkehren, möchte nach Dimataling, nach Mindanao zurückgehen. Aber vielleicht ist es besser, erst einmal eine Zeit lang draußen zu bleiben. Wir werden sehen. So oder so werde ich zurückkehren. Wie das genau aussehen wird, hängt auch von unserer Gruppe vor Ort ab, von den Oberen. Vielleicht werde ich in eine Gegend weit weg von Mindanao zurückkehren.

Ich habe Gott angeboten, in der Zukunft - so er will - einigen dieser Menschen zu helfen ihr Leben zu normalisieren. Vor allem einige junge Männer im Alter von 17, 18 Jahren haben mir gesagt: „Pater, dieses Leben liegt uns nicht, wir wollen lernen, wir wollen studieren.“ Wer weiß, ob ich nicht eines Tages einigen meiner Entführer nützlich sein kann - so Gott es will.

Vor allem würde ich sehr gerne einen Mann wieder treffen, den ich ‚Comander Ustad’ nenne (d.h. ein Laie, der religiös engagiert ist), der einer der Führer jener Gruppe war, die mich gefangen hielt. Er ist ein Mann, der sehr gut seine Religion kennt und der sowohl der Religion als auch mir gegenüber sehr sympathische Haltungen an den Tag gelegt hat. Es war schön, mit ihm über Religion zu sprechen. Wenn alle islamischen Fundamentalisten so wie er wären, dann gäbe es wohl keinen Grund für eine Angst vor dem Islam. Hin und wieder hat er versucht mir zu helfen. Natürlich hat auch er die Strategie der gesamten Gruppe befolgt, aber er wahr immer aufrichtig und sagte: „Über dieses und jenes darf ich nicht reden.“ Er war immer korrekt mir gegenüber, hat mir immer wieder Hoffnung gemacht und mir bestätigt, dass der islamische Glaube abrahamitischer Glaube ist, also tief dem christlichen Glauben verbunden. Bei ihm habe ich dies genau gespürt, bei ihm habe ich die Ähnlichkeit der Glaubenserfahrung kennen gelernt.

Wenn Du von abrahamitischem Glauben sprichst als einem Punkt, an dem sich Christentum und Islam berühren, könntest Du das näher beschreiben?

Diese Menschen akzeptieren die anspruchsvollen Gebote ihrer Religion mit ihrem ganzen Gewicht, allein, weil sie in schlichtem Glauben Gott vertrauen und ihm gehorchen. In christlicher Perspektive wäre es wie bei Franz von Assisi der dazu auffordert, das Evangelium „sine glossa“, ohne weitere Kommentare anzunehmen. Ein Glaube, der Dich sagen lässt: ja, ich verstehe es vielleicht nicht, aber Gott weiß, was gut für mich und was schlecht für mich ist. Und wenn ich ein Opfer bringe, dann verbürgt mir Gott, dass dieses Opfer fruchtbar ist. So ist ihr Glaube strukturiert. Auf meine Art gilt diese Glaubenserfahrung und -praxis auch für mich: Z.B. wusste ich in all den sechs Monaten, dass Gott etwas Neues bereitete. Jetzt, nachdem ich wieder frei bin, weiß ich, dass es Sinn hatte zu warten, damit alles von Gott zur Vollendung geführt werden konnte.

In Deinen ersten Interviews habe ich gelesen, dass Dir der Kontakt mit der Natur gut getan hat. Es scheint sogar, dass Du physisch dank dieser Erfahrung besser drauf bist als vorher.

Der erste Trost für mich war Gott und das Gebet. Der zweite Trost war die Schönheit der Natur. Ein herrliches Schauspiel! Während der ersten zwei Monate waren wir in der Nähe der Küste in einem Mangrovenwald, jene Bäume, die im Meereswasser wachsen. Also eine maritime Umgebung mit Fischen, die unter unseren Füssen umher schwammen, eine Gegend mit vielen schönen Vögeln. Für zwei Monate haben wir wie Affen gelebt, auf den Bäumen. Dann sind wir ins Landesinnere gezogen, in die Flusswälder mit ihren riesigen Bäumen und völlig anderen Tierarten. Alles schien mir so schön, dass ich einfach keine Angst haben konnte, selbst wenn meine Entführer in Kriegsausrüstung durch diese Wälder schritten. Denn alles um uns herum sprach von Frieden, von Liebe, vom Überfluss der Gaben Gottes für uns. Oftmals haben wir einander solche Eindrücke mitgeteilt. Ich erinnere mich an den einzig älteren Mann der Gruppe, ca. 60 Jahre. Abends gab es immer etwas Zeit zum Unterhalten, und wir saßen zusammen und schauten uns den hereinbrechenden Abend an, die Lichter des Sonnenunterganges, die Sterne, die hervorkamen, die frische Brise, den Gesang der Vögel. Es gibt dort einen Vogel der immer zu singen scheint. Früh morgens scheint er zu rufen: „Zeit zum Aufstehen!“ und abends ruft er mit ähnlichem Laut, aber diesmal: „Macht Euch breit, der Abend kommt!“ Der alte Mann sagte mir: „Pater, wer lenkt die Sonne, den Mund, wer hat diese wunderbaren Dinge geschaffen. Ist es etwa nicht Allah?“ Ich antwortete: „Gewiss.“ Es ging ihm gar nicht darum, meine Ansicht genauer zu ergründen. Er sagte es einfach aus kotemplativem Geist heraus. Wunderbar. Wie er es sagte, hat mich berührt. Auch, weil seine Gefühle in dem Augenblick dieselben wie meine waren.

Und wenn er Allah sagte, stand dahinter nicht: „Allah - und nicht dein Gott“?

Nein, ich glaube nicht. Ich glaube, dass auch diese Männer der Ansicht sind, dass unser Gott derselbe ist. Natürlich waren wir manchmal versucht über Theologie zu diskutieren. Das geschah vor allem mit einer Person, die von einer anderen Gruppe gekommen war. Wahrscheinlich hatte er etwas katholische Theologie studiert und präsentierte sein Wissen als eine Art Herausforderung an mich. Eine Zeit lang habe ich die Herausforderung angenommen, der Abwechselung und Unterhaltung wegen. Danach hat er mich in eine Diskussion über die Dreifaltigkeit ziehen wollen. Aber da wollte ich nicht mehr mitmachen. Jede Rede über Gott muss von einer Glaubenserfahrung und -entscheidung ausgehen, und wenn wir diesen Ausgangspunkt nicht gemeinsam haben, d.h. den islamischen oder christlichen Glauben, riskieren wir, lediglich sehr abstrakt zu streiten ohne etwas von der Gotteserfahrung des Anderen wirklich zu verstehen.

Du bist also der Meinung, dass nicht nur Du etwas von ihrem Glauben entdeckt hast, sondern dass auch sie - wenngleich vielleicht unreflektiert - etwas von den Gemeinsamkeiten zwischen ihrem und Deinem Glauben entdecken konnten?

Genau. Das jedenfalls hoffe ich, ich habe darüber natürlich keine Gewissheit. Ich hoffe, dass am Ende auch sie eine gewisse Form der von Gott verbürgten Geschwisterlichkeit oder Gemeinschaft haben spüren können. Für sie sind die Christen ältere Geschwister, so wie für uns die Juden. Wir gehen ihnen voraus, haben aber als Christen in ihren Augen nicht die Fülle der Offenbarung im Koran erreicht.

Die Umstände Deiner Befreiung sind bisher etwas unklar geblieben. Für uns war es ein absolut überraschender Augenblick. Wie ging es vor sich?

Ungefähr zwei Wochen vor der Befreiung kam vorhin schon erwähnter ‚Comander Ustad’ nach einem Monat Abwesenheit überraschend in unser Lager zurück und sagte: „Pater, ich hatte eigentlich nicht mehr gedacht noch einmal zurückzukehren. Aber unversehens bin ich erneut in die Verhandlungen eingeschaltet worden. Es scheint, dass die Regierung mit dabei ist, und dass es diesmal entscheidend ist. Sie müssen jetzt einen Brief mit unseren Bedingungen für die Freilassung schreiben und eine Kassette aufnehmen.“ (Brief vom 16.03.2002) Am Mittwoch der Karwoche wurde ich morgens überraschend informiert, dass ich frei gelassen würde. Endlich frei! Wir warteten auf jemanden von draußen, der mich wegbringen sollte. Offensichtlich haben wir zu lange gewartet. Am Nachmittag um vier Uhr ging es los. Ich konnte mich nicht einmal mehr von allen verabschieden. In diesem Augenblick dachte ich, es wäre der Aufbruch zur Befreiung. Ich bin mit einer kleinen Gruppe von ca. 10 Personen losgezogen. Drei Stunden lang sind wir sehr schnell gegangen. Sie hatten mir alle Last abgenommen, mir nichts in die Hand zum Tragen gegeben, damit ich schneller vorwärts käme. Die Anderen hingegen waren mit Rucksäcken und Waffen ausgerüstet. Es war ein äußerst mühseliger Weg. Und dann kamen wir an einem Punkt an, wo es nicht mehr weiter ging. Sie haben mir gesagt: „Dort sind Soldaten, da können wir nicht vorbei.“ Wir haben uns wieder zurückgezogen, noch einmal eine Stunde, um einen Platz für die Nacht zu finden. Dort haben wir dann geschlafen und sind frühmorgens wieder zum Lager zurück gekehrt. Es war Gründonnerstag - wieder ein Fehlschlag.

Dann, am Weißen Sonntag (7. April), wurde ich informiert, dass wir nach dem Mittagessen aufbrechen würden. Um ein Uhr brach die gesamte Gruppe auf. Wir waren ca. 35 Personen. Von ein Uhr bis sechs Uhr sind wir ohne Unterbrechung marschiert, hatten aber gegenüber Karmittwoch ganz andere Wege gewählt. Um sechs Uhr hielten alle zusammen an, und wir aßen das am Mittag vorbereitete. Mir wurden alle Lasten abgenommen. Um 6.45 Uhr bin ich dann mit einer kleinen Gruppe und zwei auswärtigen Führern weiter gewandert. Bis ein Uhr nachts ging der Marsch weiter, ein sehr, sehr mühseliger Weg, so dass ich wütend wurde, weil ich dachte, wir würden es nicht mehr schaffen. Hinzu kam, dass wir einen Teil der Gruppe verloren. Wir mussten anhalten und auf den Rest warten. Wir glaubten, der Treff wäre für elf Uhr verabredet, und zu diesem Zeitpunkt waren wir noch weit vom Ziel entfernt. Dann hab ich begriffen, dass wahrscheinlich der Treffpunkt weiter entfernt war als die Entführer angenommen hatten. Wir marschierten, marschierten... Dann konnte ich mit dem Anführer der Gruppe reden. Einige aus der Gruppe hatten mittlerweile vor Anstrengung aufgegeben und waren zurück geblieben. Sie mussten schließlich den ganzen Weg noch in der Nacht zurücklaufen, um der Armee zu entgehen. Ich sagte zum Anführer: „Hören Sie - glauben Sie nicht, dass ich noch einmal zurückkehren könnte. Ich bin todmüde. Ich kann nur noch vorwärts laufen, habe weder die psychologische noch die physische Kraft umzukehren, ich habe lediglich noch die psychologische Kraft vorwärts zu gehen. Entweder lasst Ihr mich heute Abend frei oder niemals. Ich will vorwärts gehen! Andernfalls werde ich nicht mehr mit Euch zusammenarbeiten, also seht zu, dass wir ans Ziel kommen. Kein Zurück!“ Vielleicht hat am Ende auch diese meine Haltung zur tatsächlichen Befreiung beigetragen.

Die Entführer konnten mit jemandem außerhalb über Satellitentelefon Kontakt halten. Wahrscheinlich hatten sie Kontakt zum Krankenwagen, der dann später kommen würde um mich aufzunehmen. Um 1.30 Uhr oder 1.45 Uhr nachts kamen wir an eine Straße. Sie haben den Krankenwagen angerufen. Ich musste mich umziehen, bekam andere Kleidung, sie haben mich kontrolliert, mir alles weggenommen, was ich hatte. Zum Beispiel hatte ich von anderen Männern der Gruppe Patronen geschenkt bekommen, die ich als Andenken hatte mitnehmen wollen. Alles weg. Sie haben mir lediglich die Schlüssel unseres Konventes gelassen. Die einzige Sache, die ich vom Anfang der Gefangenschaft bis zu ihrem Ende getragen hatte: ein Schlüsselanhänger mit einem Bild vom Hl. Josef und Jesus, wie sie in ihrer Werkstatt arbeiten. Ungefähr um zwei Uhr nachts kam der Krankenwagen an. Der Anführer unserer Gruppe hielt mich fest an der Hand und rannte mit mir auf die Straße. Etwas von uns entfernt kam der Krankenwagen zum Stehen. Im Krankenwagen waren fünf Männer, die sich als Polizisten ausgaben. Zwei oder drei kamen aus Manila. Die anderen zwei oder drei waren von der örtlichen Polizei. Drei Personen stiegen aus und kamen auf uns zu. Einer der Polizisten nahm mich sofort und geleitete mich rasch zum Krankenwagen, ein Weiterer baute sich hinter uns auf und begleitete uns. Eine Minute nach der Begegnung sind wir im Krankenwagen weggefahren.

Danach sind wir vier Stunden lang im Auto gefahren. Um ca. sechs Uhr morgens kamen wir in Dipolog City an. Dort konnte ich frühstücken und wurde dann mehreren Persönlichkeiten von Polizei und Armee vorgestellt. Danach eine medizinische Kontrolle, und nach ca. 45 Minuten wurde ich in ein Flugzeug der Polizei gebracht, und es ging nach Manila. In Manila gab es zunächst einen kurzen Aufenthalt auf dem Flughafen, um einige Politiker zu treffen. Sie sagten mir: „Pater, jetzt werden wir gleich die Präsidentin treffen. Zusammen mit ihr werden Sie auch Journalisten begegnen. Halten Sie bitte keine großen Reden, bedanken Sie sich lediglich um nicht von anderen instrumentalisiert zu werden.

Die Nachrichten über Deine Befreiung waren tatsächlich ziemlich dramatisch: von Gefechten war die Rede, vom Druck der Armee auf die Entführer, und davon, dass die Entführer Dich schließlich frei gelassen hätten, um fliehen zu können.

In Wirklichkeit war alles etwas ruhiger. Es kann wohl sein, dass die Armee Druck auf die Entführer gemacht hat, tatsächlich gab es eine gewisse Sorge, dass die Soldaten uns finden könnten. In der letzten Woche mussten wir mehrere Male den Lagerplatz wechseln. Außerdem wurde mir von den Entführern selbst bestätigt, dass vier von ihnen festgenommen worden seien. Von daher auch die Angst, diese vier könnten reden. Von daher kann es sein, dass es militärischen Druck gab, der die Befreiung begünstigt hat.

Nach der Überwindung von schwierigen Augenblicken im Leben ist es manchen Menschen möglich, in der erlebten Angst, in der Unsicherheit, im Leiden eine Botschaft Gottes für ihr Leben zu erkennen. Kannst und möchtest Du sagen, welche Botschaft Gott durch diese Ereignisse an Dich richten wollte?

Um das auszudrücken, würde ich auf die Sätze und Leitmotive unserer Spiritualität zurückgreifen. Für mich ist das entscheidende Wort: Hingabe. Hingabe, die auf wahrhaftigste, tiefste und wirksamste Weise die andere Erwartung unserer Spiritualität verwirklicht: Adveniat Regnum Tuum - Dein Reich komme. Nicht nur unsere Mängel, nicht allein unsere Egoismen müssen Gegenstand unserer Bekehrung sein, auch unsere Tugenden. Eine wirklich reife und erwachsene Spiritualität verlangt, dass wir uns absolut den Händen Gottes überlassen, dem großen Geheimnis der Armut, der eigenen Unzulänglichkeit, der sich selbst zugestandenen Unfähigkeit, über sich selbst zu verfügen. Genau das habe ich in Fülle in diesen sechs Monaten erfahren. Ich bin in meinem Leben bisher immer eine aktive Person gewesen, ich bin immer Protagonist meines Lebens gewesen. In der Erfahrung der Entführung, da ich mit der absoluten Unfähigkeit auf allen möglichen Ebenen bis hin zur Gewährleistung meiner Zukunft, meines nächsten Tages konfrontiert wurde, bin ich schließlich - endlich - ein Werkzeug geworden. „In meiner Schwachheit bin ich stark.“ Dieser Satz des Hl. Paulus fasst für mich eine gereifte christliche Glaubenserfahrung zusammen.

Hast Du keine Angst, dass es nach dieser Ausnahmesituation sehr schwierig sein wird, im alltäglichen Ordensleben, im mitbrüderlichen Leben diesen Entdeckungen tatsächlich treu zu bleiben?

Absolut. Das wird der Test sein, ob die in diesen Monaten erreichte Demut tatsächlich in mir Bestand haben wird. Wir werden sehen. Ich habe jedoch Vertrauen, dass es möglich ist.

Meiner Meinung nach habe ich das Glück gehabt, in die Hände einer fundamentalistischen Gruppe zu fallen. Natürlich spreche ich nicht von allen Fundamentalisten. Aber wenn ich in die Hände einer einfachen Kidnapper-Bande geraten wäre, wäre ich heute wahrscheinlich tot. Meine Entführer sagten: „Wir wissen, dass der Eine über uns ist. Wir wissen, dass wir im Sinne von Gesetzen und Geboten eine Sünde begangen haben.“ Um sich weiter zu erklären sagten sie: „Uns ist es auch verboten, Schweinefleisch zu essen, aber an dem Tag, an dem wir den Hungertod riskieren, werden wir auch dieses Fleisch essen. Denn das erste Gebot ist Überleben. Das Zweite ist der Gehorsam gegenüber allen anderen Geboten. Deswegen haben wir Dich entführt, weil wir überleben wollen, weil wir Waffen für unsere Verteidigung und für die Verwirklichung unseres Zieles kaufen wollen: die Befeiung Mindanaos von der Regierung in Manila. Wir wissen, dass es ein Missbrauch ist, und diesem wollen wir während der Entführung nicht noch weitere hinzufügen.“ Deswegen bin ich überzeugt: wenn ich in die Hände von Menschen geraten wäre, für die Gott keine alltägliche Wirklichkeit ist, wäre es mir schlechter ergangen.

In seinem Brief an die Dehonianische Familie nach Deiner Befreiung hat P. General Bressanelli bereits einige Punkte ausgemacht, die die Fruchtbarkeit Deiner Erfahrung für die gesamte Dehonianische Familie offenbaren. Was denkst Du, welches sind Deiner Meinung nach Früchte dieser Erfahrung über Deine eigene Person hinaus?

Über diese Zeit als eine Art Gnadenzeit habe ich bereits hinreichend gesprochen. Ich denke, diese Entführung, die nicht nur meine Erfahrung, sondern die von vielen Anderen ist, könnte vielleicht eine Bedeutung für unsere Mission auf den Philippinen haben. Wir haben in den vergangenen Jahren schwierige Jahre in unserer Gruppe durchlebt. Vielleicht könnte diese gemeinsame Erfahrung uns helfen als Gruppe geläutert und versöhnt zu werden. Über die Freude der Befreiung hinaus müssten wir weiterhin schauen, was denn in diesem Ereignis die Botschaft Gottes für uns als Gruppe sein mag.

Ich glaube, dass auch auf der Ebene der Ortskirchen diese Entführung fruchtbare Konsequenzen hat. Männer und Frauen verschiedener christlicher Glaubensgemeinschaften haben sich zusammen gefunden, um für meine Befreiung zu beten. Zum Teil war das eine absolute Premiere. Jetzt führen sie diese Gebetstreffen fort und beten für zahlreiche andere Menschen in ähnlichen schwierigen Situationen.

Darüber hinaus kann das Geschehene vielleicht auch dazu beitragen, dass unseren jungen Kandidaten klar wird, dass die Entscheidung für das Ordensleben nichts mit der Suche nach Wohlstand und Sicherheit zu tun hat, sondern das Risiko in sich birgt, dem Schicksal des armen und gekreuzigten Meisters zu folgen.

Es ist wichtig, dass wir alle dieses Ereignis aus dem Glauben heraus betrachten, also nicht lediglich als glücklich beendetes Drama, sondern als eine Zeit der Gnade, deren Sinn herauszufinden jeder Einzelne und jede Gruppe aufgefordert ist.

P. Stefan Tertünte scj